Adelina von Leipzig leben hat nun dazu aufgerufen, den ganz persönlichen Lieblingsort vorzustellen. Aber was nehmen? Ich liebe die ganze Stadt. Bei Glatteis. Wenn mir der Regen ins Gesicht spritzt. Wenn die Sonne vom Himmel scheint. Wenn Nebel die Sicht einschränkt. Wenn der Schnee fällt.
Letzendlich entschied ich mich für den Punkt, an dem ich bei beinahe jedem Spaziergang entlang spazieren muss. Nicht, weil er besonders schön ist. Er ist nicht einmal besonders spektakulär. Und viele meiden die Ecke.
Wer aus der Stadt kommend die Pfaffendorfer Straße, die Gohliser, die Lützower Straße und dann die Virchowstraße in Richtung Gohlis fährt, sieht irgendwann einen Gebäudekomplex auf der linken Seite. An der Otto-Adam-Straße, der Wilhelm-Plesse-Straße und dem Viertelsweg. Niemand wohnt dort mehr. Die Fenster sind vernagelt, die Balkone teils abgerissen und verfallen. Ein riesiger Innenhof ist verwildert und durch hohe Zäune abgeriegelt.
Tagsüber sehen die Gebäude einsam und vergessen aus. In der Dämmerung und im Dunklen wirken sie manchmal wie eine Kulisse aus einem Film. Wie ein Mahnmal aus einer längst vergessenen Zeit. Hier ist nichts saniert. Durch blinde Flurfenster sind eingestürzte Zwischendecken zu sehen. Im vergangenen Sommer brannte ein Dachstuhl aus. Hier spielen keine Kinder, es riecht nirgendwo nach Essen, nirgendwo brennt Licht.
Im Winter wird hier kaum geräumt. An abgebrochenen Dachrinnen hängen Eiszapfen, die immer einmal wieder mit einem Knacks abbrechen.
Die Ecke ist vielleicht nicht die schönste Ecke in Leipzig. Vermutlich nicht einmal die Zweitschönste. Und trotzdem bin ich dort regelmäßig, laufe an den Wänden entlang, sehe minutenlang zu den Balkonen hoch. Ich überlege, wer dort einmal gewohnt hat. Wie die Wohnungen ausgesehen haben mögen. Warum niemand den Komplex mit dem wunderbar riesigen Innenhof saniert. Was die Menschen bewogen hat, hier wegzuziehen. Ich stand dort schon zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich habe Taschenlampen von einbrechenden Jugendlichen gesehen. Ich habe das Kind gesehen, das durch den Zaun auf einen gelben Schmetterling zeigte. Ich habe dort mit lieben Menschen gestanden und darüber gesprochen, was wäre, wenn hier wieder Leben wäre. Wenn all die Wohnungen saniert würden, der Innenhof einen Spielplatz hätte und die Kinder zum Kiosk um die Ecke laufen könnten, um dort ihr Eis zu kaufen. Vermutlich macht das den Reiz dieser Ecke aus. Hier hat man noch das Gefühl, dass alles möglich ist. Irgendwie. Irgendwann.
16. Januar 2013 um 10:30
wunderschön beschrieben. Da wird mir ehrlich ganz warm ums Herz
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